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Sprossenwand - Magazin im DTB

Vereinskultur im organisierten Sport

21.02.2017 15:49

Die Kluft zwischen Groß- und Kleinvereinen wird größer. Doch es lohnt sich, die Einheit des Vereinssports zu sichern, findet Autor Prof. Hans-Jürgen Schulke.

Betrachtet man die Liste der größten deutschen Sportvereine, so stehen fast nur Profivereine aus dem Fußballlager vorne. Deren Dominanz ist kein Geheimnis: Der weitaus größte Teil der Mitglieder sind "Supporter", also sportlich im Verein nicht aktive Personen, die sich als leidenschaftliche Fans ihrer Mannschaften verstehen oder auch nur günstige Tickets oder Fahrten zu Auswärtsspielen wünschen. Ihre Zahl dürfte mittlerweile mehr als zwei Millionen betragen.

Außergewöhnliche Entwicklung

Zieht man diese Zuschauermitglieder ab, dann erkennt man eine größer werdende Gruppe von Vereinen mit 5000 bis 30 000 Mitgliedern, die ihre respektable Größe vor allem durch Fitness- und  Gesundheitssport, Angebote für Frauen und jüngst auch Senioren erreicht haben. Sie sind die Platzhirsche in ihren Regionen mit einem hohen Professionalisierungsgrad an Personal, Sportstätten, innovativen Angeboten und politischem Networking. Ganz anders sieht es bei den Kleinvereinen mit weniger als 100 Mitgliedern aus, die rund die Hälfte der 90.200 Vereine des DOSB ausmachen.

Bei den Großvereinen mit aktiven Mitgliedern ragt ein Verein einsam heraus und fällt semantisch wie chronologisch aus der Menge der TV, SV, VfL, VfB und THC heraus, die meist über hundert Jahre alt sind: Sportspaß Hamburg e.V., gegründet von einer studentisch geprägten Gruppe wettkampfabstinenter Freizeitsportler im Jahre 1977 mit 11 Mitgliedern. Nach Anlaufschwierigkeiten wegen fehlender Räume, mangelnder Erfahrung und vorsichtiger Werbung begann eine einzigartige Erfolgsgeschichte: Mit 1000 Mitgliedern nach fünf Jahren über 4000 nach zwölf Jahren bis zur Höchstzahl von 74.000 im Jahr 2015. Die sind heute in sieben großräumigen vereinseigenen Fitnesscentern aktiv.

Das Geheimnis der rasanten Entwicklung ist das offene, niedrigschwellige und flexible Angebot ohne Wettkampfpflichten für sportunerfahrene und vereinsferne Personen, insbesondere berufstätige Frauen. Mehr als 70 Prozent der Mitglieder sind weiblich. Und das zum Preis von unter zehn Euro pro Monat.

Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten

Früh sind traditionsbewusste Vereine und der Landessportbund auf Distanz gegangen: Kein Training und Wettkampf in herkömmlichen Sportarten, dadurch niedrige Personalkosten und Mitgliedsbeiträge, keine Kinder- und Jugendarbeit oder soziales Engagement, kurz Sportspaß sei kein wirklicher Sportverein. Die übrigen Hamburger Großvereine nahmen Sportspaß nicht in ihre Runde auf.

Die Befürworter hielten dagegen: Der Verein erreiche vor allem vereinsferne Personen, erleichtere Berufstätigen mit flexiblen Arbeitszeiten sportlich-gesundheitsorientierte Aktivität, habe speziell qualifizierte Übungsleiter, die meisten Kinder und Jugendlichen aller Sportvereine, verhindere das Aufsuchen der zahlreichen kommerziellen Sportstudios, stelle bald 20 Prozent der Mitglieder des LSB. Und die Vereinsspitze moniere seit Jahren, dass es an gerechter Förderung des LSB für Übungsleiter und Bau der Sportstätten mangele. Ein Austritt aus dem LSB stand mehrfach zur Diskussion.

Diskussionen mit dem Landessportbund

Zuletzt schien sich die Lage zu entspannen, denn immer mehr Vereine in Hamburg und darüber hinaus orientierten sich erfolgreich, wenngleich nicht absolut, am Geschäftsmodell von Sportspaß. Der Turnverband berücksichtigte in der Lehrarbeit spezifische Bedarfe des Vereins. Satzungen und Förderrichtlinien allerdings wurden nicht angepasst. Das wurde zuletzt zum Problem, denn die Mitgliederzahlen von Sportspaß gingen zurück, schossen doch in Hamburg die Billigketten der Sportstudios in die Höhe (McFit, Miss Sporty u.a.). Mittlerweile sind die mittleren Jahrgänge der Hamburger Bevölkerung sportlich häufiger in kommerziellen Studios zu finden als in Vereinen.

Der bis dahin finanziell mit knapp zwölf Millionen Euro Einnahmen jährlich solide aufgestellte Verein musste spitzer rechnen und stellte die Frage, was von seinen 450.000 Euro Mitgliedsbeiträgen an den Sportbund ihm umgekehrt zugutekäme – nach Prüfung der Vereinsführung und angesichts der verschärften Konkurrenz zu wenig. Sie vermochte auch das Argument, die Gemeinsamkeit aller 817 Vereine beinhalte auch die etwa von Profivereinen gewährte Solidarität mit Kleineren und Schwächeren, nicht zu überzeugen. Selbst Schlichtungsrunden mit Sportsenator und DTB-Präsident, bei denen finanzielle Bedarfe und satzungsgemäße Vorgaben inkompatibel blieben, verhinderten nicht den Austritt von Sportspaß aus dem HSB Ende 2016. Auch der DOSB verlor den Verein mit den meisten aktiven Mitgliedern.

Der Austritt und seine Folgen

Unbeschadet der Frage, ob hier nicht bei früherer Wahrnehmung der Konfliktlage und mehr diplomatischem Geschick ein Austritt hätte verhindert werden können, birgt er weitreichende Folgen für die deutsche Sportlandschaft angesichts der zahlenmäßigen und politischen Bedeutung der Großvereine. Sollte Sportspaß die Erfahrung machen, dass trotz Verringerung steuerlicher Privilegien und Zusatzkosten bei Versicherung und Sportstättennutzung der finanzielle Spielraum spürbar vergrößert wurde, könnte das Beispiel Schule machen.

Das kann bei großen Vereinen vom Austritt aus dem Landessportbund über Ausgliederung der Fitnessportler in Parallelvereine bis zu veränderten Machtverhältnissen per Satzungsänderung reichen. Der vor einigen Jahren in Nordrhein-Westfalen gestartete Versuch eines eigenständigen Freizeitsportverbandes ist noch in Erinnerung. Er hätte zur Folge, den organisierten Sport nur als Addition seiner Vereine und nicht mehr als gemeinschaftlich handelnde Solidargemeinschaft – die politischen Prozesse in Europa als Menetekel.

Der Austritt von Sportspaß ist mehr als nur taktisches Missgeschick oder Lokalposse. Er gehört in die auseinanderdriftende Gemengelage des Gefälles zwischen Klein- und Großvereinen, der digitalen Dynamik in Kommunikation und Kooperation, der Veränderungen in den Sportgewohnheiten und damit wachsender kommerzieller Konkurrenz für die gemeinnützigen Vereine, mehr Eigenständigkeit des agenturgeführten unterhaltsamen Profisports, das Herauswachsen des Spitzensports aus der Vereinsbasis wie die neuen pädagogischen und sozialen Aufgaben für die Vereine in ihrer Kommune.

Es bleibt mehr denn je die vornehme Aufgabe der Landessportbünde und des DOSB, die Einheit des Vereinssports auch unter neuen sozialen, medialen und ökonomischen Herausforderungen zu sichern. Das erfolgt bereits durch viele vom Staat und Sponsoren geförderte Projekte etwa im Integrations- und Inklusionssport, auf kommunaler Ebene beim Sportstättenbau und Ganztagsbetreuung mit Vereinen. Sie sind offensichtlich noch konsequenter auf die neuen Herausforderungen der Großvereine auszurichten, manche Traditionen sind zu prüfen.

Ein Rückblick auf den Kern der Vereinsidee, wie er vor 200 Jahren in den ersten Turnvereinen mit Mitgliedschaft für alle und gleichberechtigter Mitbestimmung sowie solidarischer Unterstützung entstanden ist, mag da hilfreich sein. Der organisierte Sport hat Größe und Gewicht nicht zuletzt dadurch erreicht, dass er sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Einheitssportbewegung neu konstituiert hat.

(Quelle: DOSB-Presse)