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Sprossenwand - Magazin im DTB

Persönlichkeitsentwicklung und Sport Selbstbewusst und zielstrebig auch im Alltag

10.06.2008 10:58

Thema des Monats

Viele Leistungssportlerinnen und -sportler sind im Vergleich zu Gleichaltrigen insbesondere disziplinierter, selbstbewusster, zielstrebiger und selbstständiger. Inwieweit Eigenschaften, die durch das Betreiben von Leistungssport gefördert werden, auch für das Leben außerhalb des Sports überaus nützlich sind, weiß aus eigener Erfahrung die talentierte Gerätturnerin Marie-Sophie Hindermann aus dem Turn-Team Deutschland.

"Man lernt auf jeden Fall zu kämpfen, man lernt wieder aufzustehen, wenn man Rückschläge erlitten hat, und einzusehen, dass nicht immer alles im Leben positiv verlaufen kann", sagt die heute 17-Jährige, die bereits im Alter von vier Jahren mit dem Turnen begonnen hat. Auch zur Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins trägt Leistungssport nach Ansicht der WM-Fünften von 2007 an ihrem Lieblingsgerät, dem Stufenbarren, bei: "Man merkt, dass man wirklich etwas kann, wenn man trainiert, wenn man sich anstrengt und jeden Tag hart arbeitet. Das hilft einem im Leben schon weiter."

Keine Zeit für "Rumtrödelei"

Positive Aspekte bringt ein Leben als Leistungssportler gewöhnlich auch insofern mit sich, dass die Athleten lernen, ihren Tagesablauf optimal zu organisieren. Während viele von Marie-Sophie Hindermanns Altersgenossinnen schon Schwierigkeiten damit haben, die im Schulalltag an sie gestellten Anforderungen (z. B. Unterricht, Hausaufgaben, Vorbereitung auf Prüfungen) zu erfüllen, vereinbart die Zwölftklässlerin mühelos die jeweils hohen Ansprüche von Schule und Leistungssport - und ist dabei in jedem Bereich sehr erfolgreich.

Für Rumtrödelei bleibt keine Zeit. "Man lernt zum Beispiel: Jetzt habe ich eine Stunde Zeit für meine Hausaufgaben und in dieser Zeit müssen diese eben erledigt werden. Man kann nicht einfach eine Pause machen, weil man keine Lust hat, sondern man muss sich hinhocken und das machen", erklärt die Schülerin. Ihre Klassenkameraden, so Marie-Sophie Hindermann, würden sich oftmals wundern, "wie wir Sportler das allgemein hinbekommen. Aber es ist eben so, dass man gezwungenermaßen diszipliniert ist."

Zwei Trainingseinheiten pro Tag

Üblicherweise klingelt für Marie-Sophie Hindermann um 5.30 Uhr im heimischen Tübingen der Wecker. Von 7.15 Uhr bis 9.15 Uhr steht im etwa 50 Kilometer entfernten Bundesstützpunkt Turnen in Stuttgart der erste von insgesamt zwei Trainingsabschnitten am Tag an. Von der Halle aus fährt die 17-Jährige anschließend mit dem Fahrrad zum rund ein Kilometer entfernten Wirtemberggymnasium in Stuttgart-Untertürkheim. Es ist eine "Eliteschule des Sports", wo sie bis etwa 13 Uhr den Unterricht besucht. Da die Schülerin die ersten beiden Schulstunden jeweils aufgrund des Trainings verpasst, erhält sie oftmals in der siebten Stunde noch Einzelunterricht. "Da hole ich dann in einer halben Stunde nach, was die anderen in anderthalb Stunden gemacht haben. Wir arbeiten alles komprimiert durch", erläutert der Teenager.

Anschließend geht es entweder zur Physiotherapie oder direkt wieder ins Training. Zurück nach Tübingen fährt Marie-Sophie gegen 17.30 Uhr mit dem Zug oder mit ihren Eltern. Die sind im Übrigen auch vom Turnen fasziniert und haben diese Sportart früher selbst erfolgreich ausgeübt. Marie-Sophie Hindermanns Mutter steht auch heute noch jeden Tag in der Halle - als Trainerin. Zuhause angekommen, ist für Marie-Sophie Hindermann zumeist aber nicht etwa "Freizeit" angesagt: Schließlich warten da noch die Hausaufgaben oder sie muss für die Schule lernen - je nachdem, ob sie dies bereits im Zug erledigen konnte oder nicht.

Ihr kommt zugute, dass sie nicht nur im Gerätturnen sehr erfolgreich ist, sondern auch eine überaus leistungsstarke Schülerin. Vor Jahren entschloss sich die Turnerin dazu, die Gymnasialzeit in acht statt, wie bis dato üblich, in neun Jahren zu absolvieren: "Wir konnten damals wählen". Über ihre Entscheidung ist Marie-Sophie, deren Lieblingsfach Mathe ist, nach wie vor sehr glücklich. Entsprechend ist die Schulzeit für das Talent bereits in etwa einem Jahr beendet. Und dann?

Studienwunsch Medizin

"Am liebsten würde ich eigentlich Medizin studieren und dabei in Richtung Sportmedizin gehen, damit ich auch beruflich dem Sport verbunden bleibe", sagt Marie-Sophie. Da der Studiengang in Stuttgart jedoch nicht angeboten werde, müsse sie noch überlegen, wie es nach dem Abitur weitergeht. Denn das Training soll nach erfolgreichem Schulabschluss natürlich wie bisher fortgeführt werden.

"Maries Perspektiven sind sehr groß, wenn sie gesund bleibt. Ich hoffe, dass sie auch noch einen zweiten Olympiazyklus mitmachen kann. Aber jetzt soll sie erst einmal die Olympischen Spiele in Peking genießen", meint Ulla Koch, Cheftrainerin der deutschen Turnerinnen.

Marie-Sophie besticht an den Geräten durch Eleganz unter anderem aufgrund ihrer Körpergröße von fast 1 Meter 70 und verfügt über eine starke Ausstrahlung. Das Turnen macht ihr "einfach unheimlich viel Spaß". Deshalb schafft sie es auch immer wieder, sich zu motivieren. Selbst die häufigen Verletzungen, die sie immer wieder zurückwarfen (mal musste sie sechs Wochen auf Krücken laufen, dann war der Daumen gebrochen, dann bereitete erneut der Fuß Probleme), taten ihrer Begeisterung für den Turnsport keinen Abbruch.

Gestärkt durch Rückschläge

Ihrer Mutter ist deutlich anzumerken, wie stolz sie auf ihre Tochter und deren Umgang mit unerfreulichen Erlebnissen ist: "Marie ist sehr gebeutelt durch längere Verletzungsphasen. Und sie hat viele bittere Rückschläge hinnehmen müssen, vor allem vor wichtigen Wettkämpfen. Aber je tiefer sie unten war, desto kämpferischer kam sie aus diesem Tief heraus", sagt Marie-Luise Probst-Hindermann. Insofern hätten die Verletzungen ihren "Tiger" durchaus auch weitergebracht, wie Marie von Ihrer Mutter genannt wird, weil sie absoluter Tigerenten-Fan ist. Nicht speziell in ihrer sportlichen Entwicklung, aber hinsichtlich der Stärkung ihrer Persönlichkeit.

Bitter sei für die Schülerin insbesondere auch die zweite Knie-Operation im Februar dieses Jahres gewesen. Diese musste eher überraschend durchgeführt werden - und ausgerechnet vor dem Tyson American Cup in New York. Doch der "Turntiger" fiel trotz der Diagnose nicht in ein Loch, wie ihre Mutter bewundernd berichtet: "Sie meinte nur: Mama, von so ´nem Scheiß lass ich mich doch nicht unterkriegen!"

Unterstützung ist wichtig

Umgekehrt verschafft ihr natürlich jeder Erfolg weitere Motivation. Und die Erfolge der WM-Turnerin können sich wahrlich sehen lassen. So gewann sie z. B. bei der Junioren-EM 2006 eine Silber- und drei Bronzemedaillen, war bei den Weltmeisterschaften der Senioren 2007 beste deutsche Turnerin im Mehrkampf, belegte ferner den hervorragenden fünften Rang an ihrem Paradegerät, dem Stufenbarren, und qualifizierte sich mit der deutschen Nationalmannschaft für die Olympischen Spiele 2008. "Ich möchte aber nicht irgendwie an den Olympischen Spielen teilnehmen, sondern ich möchte schon zeigen, dass ich gut turnen kann", macht Marie-Sophie Hindermann deutlich, welche Ansprüche sie an sich selbst hat.

Damit sie sich optimal auf das Wesentliche konzentrieren kann, ist auch eine gute Vermarktung und die damit verbundene Unterstützung notwendig. Mit der Stuttgarter Bank, der EnBW und der Stiftung Deutsche Sporthilfe hat die Schülerin bereits renommierte Unternehmen und Institutionen an ihrer Seite, die sie in unterschiedlicher Hinsicht fördern.

Lob von der Cheftrainerin

Die Schülerin weiß aber auch selbst genau, was sie will: "Ich stecke mir Ziele und die möchte ich unbedingt erreichen. Das ist eigentlich Motivation genug." Dabei hat sie kein direktes Vorbild im Turnsport, sondern möchte so sein, "wie ich bin". Sie selbst sagt über sich, dass sie "einen eigenen Kopf" habe und offen anspreche, wenn ihr etwas nicht gefalle. Zudem charakterisiert sich Marie-Sophie als "zielstrebig und kämpferisch".

Ulla Koch zufolge hatte Marie "schon immer eine ganz ausgeprägte Persönlichkeit. Diese hat sich in den vergangenen Jahren noch stärker herauskristallisiert. Sie ist offen, selbstbewusst, selbstkritisch, hoch intelligent mit sozialer Kompetenz", lobt die Cheftrainerin ihren Schützling. Marie-Luise Probst-Hindermann beschreibt ihre Tochter als "selbstbewusst, grundehrlich, fröhlich und zielstrebig". Sie sei zudem schon immer sehr diszipliniert und extrem selbstständig gewesen. "Marie hat oft Alltagsangelegenheiten selbst geregelt und ist z. B. bereits mit zehn Jahren alleine geflogen", erzählt ihre Mutter.

2007: Ein besonderes Jahr

Dennoch fiel es den Tübingerin nach eigener Aussage anfangs oft schwer, aufgrund von Turnieren oder Wettkämpfen lange Zeit von zuhause weg zu sein. Mittlerweile hat sie damit jedoch keine Schwierigkeiten mehr. Dies vor allem auch deshalb, weil "wir uns in der Gruppe total gut verstehen", sagt die Turnerin, die als ihren größten Erfolg das Abschneiden bei der WM 2007 bezeichnet. Jenes Jahr sei für sie ein besonderes gewesen, denn sie musste sehr viele gesundheitliche Rückschläge einstecken – und präsentierte sich vor heimischem Publikum dann hervorragend. "Dass ich das so gut hinbekommen habe, hat mir noch einmal bestätigt, wofür ich das alles mache. Und dass - selbst wenn die Vorbereitung miserabel ist - alles noch richtig cool werden kann!"

Claudia Pauli